Das Vaterland zwischen Vergötzung und Verachtung

Christian Herrmann, Tübingen

Bei sportlichen Großereignissen wie einer Fußballweltmeisterschaft zeigen die Menschen deutlich sichtbar ihre Verbundenheit nicht nur mit der eigenen Mannschaft, sondern auch mit dem eigenen Land. Dabei dachten viele, dass den Deutschen als Gegenreaktion zum Dritten Reich die Liebe zu ihrem Land oder gar der Stolz auf dieses spätestens durch die Kulturrevolution der 68er gründlich ausgetrieben wurde. In Schulbüchern, Vorlesungen oder politischen Ansprachen wird das Thema Vaterland oder Heimatliebe nach wie vor weitgehend tabuisiert. Oder man bemüht sich, sozusagen in Gestalt eines "negativen Nationalismus" die Einzigartigkeit Deutschlands in der Bosheit und Schwere der Schuld herauszustellen und jede Differenzierung als Revanchismus oder Verharmlosung des Geschehenen herauszustellen. Sowohl die positive Verabsolutierung des Vaterlandes (Überlegenheit der germanischen Rasse) wie das negative Pendant (totale Verwerflichkeit nationaler Bezüge) ist problematisch. Gerade in einer Zeit der Globalisierung und zunehmenden Individualisierung sehnen sich die Menschen nach konkreten Haftpunkten, nach Heimat, Orientierung und Überschaubarkeit. Ein programmatisches Weltbürgertum mag chic sein; befriedigend ist es auf die Dauer aber nicht, wenn man überall und nirgends zu Hause ist. Das ist ähnlich wie der Unterschied zwischen ständig wechselnden Kontakten und einer verlässlichen Beziehung in Ehe und Familie. Die Menschen wollen kein bloßes Nebeneinander von Individuen ohne gemeinsame Bezüge oder einen Staat, der sich über ein sein technokratisches Funktionieren definiert. Vielmehr gibt es ein Bedürfnis nach einem "Wir-Gefühl", nach einer "community cohesion" (gemeinschaftlicher Zusammenhalt), wie der Zuständigkeitsbereich der britischen Integrationsministerin heißt. Überhaupt das Ausland: gerade weit mehr als Deutschland vom Multikulturalismus geprägte Länder wie Großbritannien oder die USA sind besonders patriotisch orientiert. So sagen Einwanderer in den USA nach kurzer Zeit "I am proud to be American" (Ich bin stolz, Amerikaner zu sein) und können Briten mit ihrer ausgeprägten Gedenkkultur (man beachte die vielen Gedenktafeln in anglikanischen Kirchen!) sagen: "Right or wrong - our country!" (richtig oder falsch - unser Land!").

Sind aber nicht in biblischer Sicht alle Menschen gleich? Ja und nein. Richtig ist, dass alle Menschen zum Ebenbild Gottes geschaffen wurden (1. Mo. 1,27), von Gott gleichermaßen beansprucht und geschützt werden (1. Mo. 9,6), von Gott geliebt sind (Joh. 3,16; vgl. 1. Tim. 2,4). Das Pfingstereignis schafft eine ganz neue, nämlich heilsgeschichtlich begründete Einheit in der Vielfalt der Menschen und Kulturen (Apg. 2,1-11). In der Beziehung zu Gott gibt es keinen Unterschied an Relevanz oder Wertigkeit aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, sozialen Standes oder Geschlechtes (Gal. 3,28). Diese Einheitsperspektive verbietet es, Bezüge individueller Art dahingehend zu verstehen, dass sie gegen andere Menschen ausgespielt oder in ein Gefälle an Wertigkeit überführt werden. Es ist also abwegig zu behaupten, dass ein Amerikaner oder Deutscher mehr wert ist oder mehr Grund zum Stolz auf sein Land hätte als z.B. ein Italiener oder Kenianer.

Doch wird als Gegenstand des Lobpreises Gottes in der Bibel auch die Unterscheidung der Menschen nach Völkern und Ländern benannt (5. Mo. 32,8). Die Tatsache des allgemeinen Geliebtseins durch Gott oder der Erschaffung zum Ebenbild Gottes reicht nicht zum Heil; dieses muss vielmehr je einzeln zugeeignet, im Glauben ergriffen werden (Joh. 3,16: "alle, die an ihn glauben"). Pfingsten oder die Einheit in Christus ist gerade deswegen ein Wunder, weil die geschöpflich-innerweltlich entstandenen Unterschiede, zu denen auch die Volkszugehörigkeit gehört, gerade weiter bestehen und in ihrer je spezifischen Gestalt ernst genommen werden (1. Kor. 9,20-22). Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein Nichtisraelit Zugang zum Heilshandeln Gottes erhält. Gerade die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern verdeutlicht das Neue des Geschehens, wenn die Heidenchristen in den Ölbaum eingepfropft werden (Röm. 11,17-24) oder wenn die Völker zum Zion pilgern und sich von Gott unterweisen lassen (Jes. 2,2-4) oder die Weisen aus dem Morgenland zum neugeborenen Christus kommen (Mt. 2,1-12).

Die Spannung von Unterscheidung und Zuordnung ist eine Wesensstruktur des Handelns Gottes. Gott macht einen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf, doch bezieht den Menschen als Ebenbild auf sich. Gott ist transzendent, aber nimmt in Christus Fleisch an. Gerade das Gesetz und die Gerichtsverfallenheit machen als bleibender Spannungspol die Größe, Unverfügbarkeit, Wunderhaftigkeit von Evangelium und Freispruch deutlich. Gott ist der ganz Andere und bindet sich doch konkret-leiblich an das äußere Wort der Heiligen Schrift und das sinnlich erfahrbare Element von Wasser, Wein und Brot in Taufe und Abendmahl.

Die Liederdichter des frühen Protestantismus haben die Thematik des Vaterlandes von dieser Einsicht her behandelt, wenn sie es als Gabe aus der "Vaterhand" Gottes her verstehen: Johann Crüger / Johann Franck: "Herr Gott, dich loben wir" (altes EKG Nr. 393): "Herr Gott, dich loben wir / für deine großen Gnaden / daß du das Vaterland / von Kriegslast entladen ... daß du uns zwar gestrafet, / jedoch in deinem Zorn / nicht gar hast weggeraffet; / es hat die Vaterhand / uns deine Gnadenthür / jetzt wieder aufgetan ...". Johann Walter stellt in seinem Lied "Wach auf, wach auf, du deutsches Land" (altes EKG Nr. 390) das Evangelium als besondere Gabe, aber auch Verpflichtung an Deutschland heraus und leitet daraus den Weckruf zur Buße ab: "Gott hat dich, Deutschland, hoch geehrt / mit seinem Wort der Gnaden ... Wach auf, Deutschland! 's ist hohe Zeit / du wirst sonst übereilet".

Es geht also um eine über Gott vermittelte Sicht auf das eigene Vaterland. Das eigene Land wird damit einerseits in seiner Bedeutung relativiert: es ist Gabe, kann also nicht zum letzten und wichtigsten Bezugspunkt werden. Andererseits wird es gewürdigt, wird Gegenstand des Danks. Zudem geht mit der Gabe eine Verpflichtung einher, gilt es, der geschenkten Würde entsprechend zu leben.

Die Ableitung, Begründung und Begrenzung der innerweltlichen Bezüge (Selbstbezug, Bezug zum Nächsten und zu größeren Einheiten wie Volk oder Staat) von Gott her macht es erstens möglich, diese Bezugsinstanzen zu würdigen, ohne sie zu verabsolutieren. Es geht um etwas, was uns - ob wir wollen oder nicht - prägt und mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Die angloamerikanische Tradition tut sich damit leichter als die deutsche oder slawische, weil sie das Nationalbewusstsein an der Geschichte und nicht an der Rasse und biologisch begründeten Zusammengehörigkeit festmacht. Das steht der biblischen Sicht näher: Israel definiert sich stets über das geschichtlich - mit, ohne, gegen Gott - Erlebte (vgl. 5. Mo. 32). Die Geschichte ist unwiderruflich abgelaufen und prägt in ihren jeweils spezifisch nationalen Ausprägungen jeden Menschen. Man tritt mit der Geburt ein in eine ererbte Kultur und in einen positiven wie negativen Geschichtsverlauf des eigenen Volkes. Diese Bindung ist emotionaler Art und daher eher geeignet, Beheimatungsgefühle zu erwecken als etwa ein rein abstrakter Bezug auf bestimmte Werte der Verfassung ("Verfassungspatriotismus"). Werte müssen geschichtlich gewachsen und verwurzelt sein, um verinnerlicht und in die nationale Identität integriert werden zu können. Andererseits bewahrt der Rückbezug auf die Geschichte mit ihrem höchst zwiespältigem Verlauf vor der Übersteigerung entweder ihrer positiven oder ihrer negativen Teile. Man darf und soll dankbar Brauchtum, Sprache, Andenken an herausragende Persönlichkeiten und Ereignisse der eigenen Kultur und Geschichte pflegen. Man muss dann aber auch eintreten in den Zusammenhang von Unrecht und Schuld der Vorfahren. So steht in den großen Bußgebeten des Alten Testamentes (Neh. 9; Dan. 9) stets dankbares Gedenken an das Positive und Selbstkritik wegen eigenen Fehlverhaltens nebeneinander.

Zweitens erlaubt der Rückbezug auf Gott einen gelassenen Umgang mit Unterschieden zwischen den Völkern. Wenn man dankbar für das eigene positiv Erlebte sein darf, kann man leichter zugestehen, dass Gott auch in jeweils spezifischer Weise mit den anderen Völkern umgeht. Man muss nicht in eine Konkurrenz darum eintreten, welches bessere und minderwertige Völker sind, sondern darf ebenso wie bei den Individuen die spezifischen Eigenprägungen jeder Nation mit Interesse und Dank zur Kenntnis nehmen. In der Begegnung mit der Brauchtums- und Traditionspflege anderer Länder wird man womöglich zur Rückbesinnung auf erhaltenswerte Traditionen des eigenen Landes angeregt.

Drittens wird ein erfolgreicher Dialog zwischen Ländern und Kulturen erst möglich, wenn die Dialogpartner ihre eigenen Prägungen ernst nehmen. Den Nächsten zu lieben wie sich selbst, setzt immerhin voraus, sich eben auch selbst zu lieben. Dialog setzt Profil voraus.

Im Unterschied zum Nationalismus unterlässt der Patriotismus allerdings graduelle Unterscheidungen nach dem Wert und Verabsolutierungen der eigenen Bezüge. Ein Patriot fiebert mit seiner Fußballmannschaft um den Sieg. Er nimmt es aber sportlich, wenn die anderen gewinnen, und denkt dankbar zurück an frühere Siege. Christen können in die Gestaltung des Patriotismus das motivierende - und begrenzende - Element des Gottesbezuges einbringen.

Zuerst veröffentlicht in idea Spektrum 27/2010

Dr. H.-J. Abromeit

Es gibt in der Geschichte eines Volkes nur wenige Sternstunden. Die friedliche Vereinigung Deutschlands gehört dazu. Wir dürfen Gott dankbar sein, dass er geschenkt hat, worauf fast keiner mehr gehofft hat.

Bischof Heinrich Timmerevers

Wir blicken 30 Jahre nach dem Fall der Mauer voll Dankbarkeit zurück. Aus ihr erwächst zugleich eine große Verantwortung für die Freiheit, für die wir auch im Heute konsequent einstehen. Wir wollen uns dieser Herausforderung stellen und aus einer christlichen Haltung und des Heiligen Geistes diesen Weg der Freiheit gehen.

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Joachim Jauer, Urbi et Gorbi

Als Korrespondent des ZDF war Joachim Jauer Augenzeuge der ersten Risse im Eisernen Vorhang und der großen Fluchtbewegung aus der DDR. Er erzählt von der großen Hoffnung auf Freiheit, von der Suche nach Wahrheit und von Menschen - darunter auffallend vielen Christen -, deren Mut das Wunder der Wende ermöglicht hat.