Warum es sich lohnt, immer wieder am 3.10. zu feiern
Joachim Wanke, Bischof von Erfurt
Papst Benedikt XVI. hat bewusst entschieden, bei seinem Deutschlandbesuch im September 2011 auch Thüringen, eines der neuen Bundesländer zu besuchen. Er würdigt damit den Ein- satz der Menschen im Osten Deutschlands für einen politischen und gesellschaftlichen Neuan- fang. Er lenkt durch diesen Besuch den Blick der Weltöffentlichkeit auf das, was hier gelun- gen ist: eine friedliche Revolution, die uns Deutschen im Osten Freiheit und allen Deutschen die Wiedervereinigung ermöglicht hat.
Der „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober erinnert uns immer neu an dieses Geschenk. Er gibt Anlass, sich darauf zu besinnen, was damals bei der friedlichen Revolution 1989/90 eigentlich geschehen ist. Wie kam es zu diesem wahrhaft glücklichen Neuanfang in unserer jüngeren Geschichte?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Sozialismus, wie er im Osten Deutschlands prakti- ziert wurde, an seinem falschen bzw. seinem utopischen Menschenbild gescheitert ist. Unmit- telbar mag man sicher noch andere Faktoren für dieses Scheitern verantwortlich machen: wirtschaftliche Ineffizienz des Systems, Unfähigkeit zu politischen und kulturellen Innovatio- nen, Abgleiten in eine ökologische, mehr aber noch in eine geistige Verwüstung, die uns im- mer noch im Osten zu schaffen macht. Doch hinter all dem stand und steht, so meine These, ein verkehrtes Menschenbild. Grundlegende Dimensionen unseres Menschseins blieben in diesem System und deren Weltanschauung ausgeblendet bzw. kamen nicht zur Geltung: die Sehnsucht nach Freiheit, das Gespür für Wahrhaftigkeit, das Verlangen der Menschen sich schöpferisch entfalten zu können, vor allem auch die religiöse Dimension der menschlichen Existenz, das Bewusstsein, sich „verdankt“ zu wissen und danken zu können und manches andere mehr.
Das eigentliche Wunder der sogenannten „Wende“ im Osten Deutschlands ist meines Erach- tens die Tatsache, dass sich hier ein Menschenbild, so wie es uns im Ansatz die Bibel vermit- telt, gegen eine transzendenzlose Ideologie durchgesetzt hat. Der konkrete Mensch in seinen Sehnsüchten und Hoffnungen war stärker als ein ausgeklügelter Macht- und Sicherheitsappa- rat.
Eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft wäre es, die Konsequenzen aus dem Scheitern der marxistischen Gesellschaftsutopie für den Ausbau und Weiterbau einer freiheitlichen, demokratisch verfassten Gesellschaft zu ziehen. Eine gute Politik muss wissen, mit welchem Menschen sie es zu tun hat. Nicht zuletzt Parteien, die von einer christlichen Grundorientie- rung ausgehen wollen, sollten sich mit Fragen des Menschenbildes, der Menschenwürde, der Zielbestimmtheit menschlichen Lebens und Arbeitens auseinandersetzen. Ich sehe übrigens das Interesse an solchen Fragen durchaus wachsen, etwa unter der Fragestellung: Wohin treibt unsere Gesellschaft? Was hält sie eigentlich zusammen? Vorrangig vor allen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fragen ist unsere Gesamtorientierung angefragt: Wer sind wir? Was wollen wir? Welche Zukunft soll uns bestimmen?
Der „Tag der deutschen Einheit“ ist eine bleibende Einladung, über solche Fragen öffentlich nachzudenken.